Shadowrun

02.12.2019: Tür 2

Kurzgeschichte: "Eine Weihnachtsgeschichte"

Eine Weihnachtsgeschichte

In der anheimelnden Kneipe im 1. Obergeschoss des Sternkaufhauses besaß jedes der auf rustikal getrimmten Tischchen eine Weihnachtsdekoration. Tannen in allen Formen und Farben standen hier oder grüßten grüne, braune und rote Weihnachtsmänner. Die fünfzehn Zentimeter hohen Plastikfigürchen waren mit den Logos der Konzerne verziert, welche sie zur Verfügung gestellt hatten und deren Werbejingles ununterbrochen in der erweiterten Realität abgespielt wurden. Die in der AR darüber schwebende Speisekarte strotzte nur so von festlichem Firlefanz.

Lewin Brodtbeck, ein Endvierziger, der dafür bemüht war, sein Wohlstandsbäuchlein zu verbergen, saß an einem Platz mit einer weiß gepuderten Tanne als Tischschmuck. Zärtlich verabschiedete er sich durch das mit gemalten Eisblumen geschmückte Lokalfenster von seiner Frau Soraya und der gemeinsamen neunjährigen Tochter Mia und sah diesen nach, wie sie sich ins Einkaufsgetümmel stürzten.

"Dein Arbeitskollege, echt? Den du vor ein paar Wochen das letzte Mal gesehen hast? Bro, ist dir wirklich nichts Besseres in den Sinn gekommen?", frotzelte sein Gegenüber, ein in einem himmelblauen Anzug gehüllter Zwerg, dessen imposanter Bart bereits unzählige Silbersträhnen aufwies.

Lewin winkte ab. "Tschuldigung Martillo. Aber es ist … mir ist wirklich nichts anderes eingefallen. Kurzer, es ist zehn Jahre her! Zehn verdammt lange Jahre, dass wir uns endgültig Lebewohl sagten. Seitdem habe ich meine Vergangenheit begraben und vergessen. So gut das möglich war. Ich habe jetzt Job, Frau und Kind. Und plötzlich stehst du vor mir. Hättest mich ruhig warnen können!"

Der Zwerg sah auf die Fußgängerpassage hinaus und verfolgte, wie die Tochter seines ehemaligen Runnerkollegen etwas in einer Ecke entdeckte, auflas und damit zur Mutter rannte. Er klang nachdenklich. "Du hast ihr nie reinen Wein eingeschenkt, eh?"


Mia hatte einen wunderschön verzierten, handtellergroßen Stern aus massivem Hartplastik gefunden und eilte zu ihrer Mutter, um ihn ihr zu zeigen. Die hochgewachsene Elfe mit smaragdgrünen Augen und zu einem französischen Zopf zurückgebundenen, roten Haaren reagierte jedoch nicht wie erhofft. Soraya nahm ihn zwar entgegen, würdigte ihn aber kaum eines Blickes. "Das gehört zu irgendeiner billigen Weihnachtsdekoration. Nichts besonderes."

Als sie es in einen Abfalleimer werfen wollte, schnappte es sich Mia wieder und drückte es wie ein Kleinod an sich. Sie wirkte beleidigt und war entschlossen, sich dieses Mal das Fest nicht von den Launen ihrer Mutter verderben zu lassen.

"Kann sein, aber er ist schön. Ich finde ihn schön! Und ich habe ihn zur Weihnachtszeit gefunden. Cataleya erzählte mir mal, dass solche Fundstücke kurz vor Weihnachten Vorboten sind, dass sich das Leben zum Besseren ändern wird!" Sie blickte trotzig. "Und das sollte man würdigen."

"Von mir aus," erwiderte ihre Mutter. "Ist zwar nur Plastikschrott, aber wenn es dich glücklich macht, behalte es."

Während Mia den Stern sorgfältig wegsteckte, sah sich Soraya kopfschüttelnd um. Irgendwann würde ihre Tochter begreifen, dass ‚Weihnachten‘ bloß ein Synonym für ‚Konsum‘ war. Daran gab es nichts Feierliches oder Festliches. Und vor allem keine Spur von Übersinnlichem, das einem armseligen Leben plötzlich eine unerwartet positive Wendung geben könnte.


"Soraya hat sich nie mit deiner Vergangenheit abgefunden, eh?" Konstatierte der Zwerg trocken.

Lewin schüttelte den Kopf. "Mar, bitte! Du hast mir ja bei der Planung ihrer Befreiung geholfen. Das liegt doch auf der Hand. Sie will nichts über meine Zeit in den Schatten wissen, weil es sie an ihr Martyrium erinnern würde."

Martillo zuckte mit den Schultern. "Das war doch vor zehn Jahre. Die sieht man dir übrigens sehr gut an, ihr aber überhaupt nicht. Obwohl," er legte den Kopf schräg, "wenn ich an das elfische Klappergestell denke, dass wir damals rausholten; hätte nie gedacht, sie jemals so gesund und zufrieden zu erleben."

"Scheint nur so", erwiderte Lewin. "Sie hat sich niemals ihrer Vergangenheit stellen wollen … Du kannst dir kaum vorstellen, was es uns kostete, all die Cyberware aus ihr rauszukriegen. Und die Albträume ist sie nie losgeworden. Wenigstens ging es seit Mias Geburt stetig aufwärts. Und seit Mia fünf wurde, hatte sie auch keinen psychischen Absturz mehr."

Mit einem breiten Grinsen entblößte der Zwerg einige gravierte Goldzähne. "Tja Roadburner, du warst ein verdammt guter Rigger. Aber mir und den Schatten wirst du in Erinnerung bleiben, weil du zu den wenig Auserwählten gehörst, die den Absprung schafften. Ach, Große Mutter, wie ich dich beneide. Du hast zumindest etwas mit Händen und Füßen für die Nachwelt erschaffen."

Der Endvierziger seufzte schwer. "Und dennoch frage ich mich regelmäßig, ob das wirklich die beste Entscheidung meines Lebens war. Ich meine, ich habe eine SIN, verdiene mein täglich Brot in einer staatlich anerkannten Garage und ziehe ein wunderbares Kind groß. Ja, das war mein größter Traum in den Schatten. Aber egal was ich erwirtschafte, das Geld langt vorne und hinten nicht. Und ich werde nicht jünger. Manchmal halten mich die Sorgen um Soraya und Mias Zukunft nächtelang wach."

Mit einem Knacken brach Martillo der weiß gepuderten Tanne in der Tischmitte den Stern mit dem S-K-Logo ab. "Weißt du eigentlich, was aus dem ‚Sibirischen Schakal‘ wurde? Dem rabiaten Sklaventreiber, dem wir Soraya entrissen und dessen Etablissement wir dabei hochgehen ließen?"

"Er hieß Alexei. Soll beim Unterweltkrieg, den Damocles in den Schatten startete, unter die Räder gekommen sein. Hat eine Abrechnung der Vory nicht überlebt."

"Bro, das sind wirklich großartige Nachrichten!"


Während Mia mit ihrer Mutter zu einer Treppe unterwegs war, vibrierte kurz ihr Kommlink und ein gehörntes Häschen im Weihnachtsmannkostüm poppte vor ihr in der AR auf. Es grinste breit und hoppelte zum Atrium. Das Mädchen folgte dem virtuellen Boten, bis sie ihre Freundin entdeckte, die ihr von einem darüberliegenden Stockwerk zuwinkte.

"Darf ich zu Cataleya?"

"Ja," nickte Soraya mit einem Lächeln. "Halte aber den Kanal offen, falls ich oder Papi dich suchen."

Das Mädchen gab ihrer Mutter einen Kuss und rannte los.

Nachdenklich schaute diese ihr nach. Manchmal wünschte sie sich, so sorgenfrei durchs Leben gehen zu können und sich nicht ständig beobachtet und verfolgt zu fühlen. Soraya sah sich um. War vielleicht nicht die beste Idee gewesen, hierher zu kommen. In solchen Menschenmengen wurde sie immer nervös. Augenblicklich konnte sie sogar spüren, wie ihr der Schweiß ausbrach.

"Reiß dich zusammen, Soraya", murmelte sie sich deswegen selbst zu. "Es ist endgültig vorbei. Vergangen und vergessen. Für das Wohl deines Kindes und deines Mannes: Sei endlich eine normale Frau!"

Sie verscheuchte die Sorgen und machte sich auf zur Treppe.


Aleksej Wiktorowitsch Kossygin, einst der ‚Sibirische Schakal‘ des RRP, folgte mit hasserfülltem Blick der rothaarigen Elfe, bis diese nicht mehr sichtbar war.

"Du gehörst mir", fauchte er ihr nach, als er sich der Handvoll Gefolgsleute zuwandte, die er noch hatte. Es waren zwar keine Autoritäten in den Schatten, aber ihm treu ergeben und der kommenden Herausforderung allemal gewachsen. Die fünf wirkten bestenfalls wie ein übler Schlägertrupp, dem die meisten Passanten weiträumig auswichen. Einzig dem muskulösen Elf in der Mitte traute er etwas zu. Aleksej zog zwar direkte Anweisungen über personalisierte Funksender einem Gruppenbriefing vor, aber im Fall seiner ehemaligen Katjuska wollte er nichts dem Zufall überlassen. So wusste jeder, wie sie heute aussah, und er persönlich hatte mit eigenen Augen sehen dürfen, was vom einstigen Juwel seiner Puppenstube übriggeblieben war. Lohnte es sich überhaupt noch, die fehlende Cyberware eigenhändig wieder hinein zu tackern? Oder sollte er sie auf dem Organmarkt verticken und dafür mit ihrem Nachwuchs neu anfangen?

Die Kleine schien Potential zu haben.

Aber vor allem konnte er sich ganz gut vorstellen, dass das Kind ein perfektes Druckmittel für seine Katjuska und dem Schlaffsack eines ehemaligen Jockeys war, mit dem er noch eine Rechnung offen hatte.

Lange studierte er den rechten Cyberarm, an den er sich nie wirklich hatte gewöhnen können. Er ballte die mechanische Hand. Es würde ein qualvoller Tod für diesen verweichlichten Lohnsklaven werden.

Aleksej wandte sich Timur und Nika zu. "Ihr zwei holt mir die Kleine. Versucht dabei, nicht allzu sehr aufzufallen und sie nicht zu stark zu beschädigen."

Die zwei kahlköpfigen Riesen in dunkelblauen Motorradjacken mit allerlei Gangabzeichen grinsten sich wölfisch an.

"Sydir, Oleg, Markowitz und ich bleiben an der Nutte dran." Seine Stimme war von Zufriedenheit erfüllt.

Timur und Nika nickten und machten sich auf den Weg zu den oberen Stockwerken.


Das NEO-BERNSTEIN EXPORT war wohl besser, als Martillo gedacht hatte. Denn nach einigen Schlucken des hiesigen Biers hatte Lewin Brodtbeck begonnen, ihm sein Herz auszuschütten: "Ich habe sogar Frieden mit meinen Eltern geschlossen. Sie sind bereit, Soraya kennenzulernen und freuen sich auf Mia."

Der Zwerg sah erstaunt von dem abgebrochenen Stern auf, dessen RFID-Chip er gerade freilegte. "Okay Bro, das ist stark. Hauptsächlich, weil ich mich noch gut an einen Runner erinnere, der nur hasserfüllt über diese ‘reichen Säcke’ schimpfen konnte und ihnen täglich den Tod wünschte."

"Manche Dinge ändern sich mit den Jahren und die Perspektiven verschieben sich. Vor allem, wenn man eine Familie durchbringen will." Lewin seufzte schwer. "Sie haben mich eingeladen! Aber es sind nicht mehr die Jüngsten. Sie wollen ihren Wohnsitz an der Goldküste aufgeben, um in eine Altersresidenz umzuziehen, in der man sich um sie kümmert. Es ist sogar von der Platzspitz-Arkologie die Rede."

"Ist wohl das Schicksal der Wohlhabenden heutzutage: den Ruhestand in einem Probefriedhof oder Aufwärmsarg zu verbringen."

Martillo kassierte dafür einen bösen Blick. "Sie hassen diese Bezeichnungen absolut."

"Bro, zieh doch einfach zu ihnen. Deine Tochter wird dann in den höchst seltenen Genuss kommen, nicht nur zu wissen, dass sie mal Großeltern hatte, sondern diese auch kennenzulernen. Habe mal gelesen, dass vor Jahrzehnten alle Familien so lebten und das normal war. Die Menschheit soll damals sogar um einiges glücklicher gewesen sein."

"Keine Chance, Mar. Ich kann nicht. Ich verdiene hier kaum genug, um die Familie über Wasser zu halten. Eine Reise in die Schweiz können wir uns nicht leisten."

Er fuhr mit belegter Stimme fort. "Außerdem ist ihr Wohnsitz ... mein Geburtshaus, bereits zum Verkauf ausgeschrieben. Könnte sein, dass wenn wir endlich ausreichend Geld für den Trip zusammen hätten, das Grundstück weg ist und meine Eltern schon in der Arkologie residieren. Da lassen sie Sterbliche wie mich und dich nicht rein."

"Dann kauf dir doch dein ‚Geburtshaus‘ zurück!"

Lewin verdrehte die Augen, als füge man ihm physische Schmerzen zu. "Bro, bitte! Wäre ich dann hier? Schau mich an! Hätte ich das Geld, würde ich so ein verschissenes Leben führen?"

Er sank nach vorne, bis er mit der Stirn die Tischplatte berührte. "Du kannst dir nicht vorstellen, wie häufig ich in den letzten Jahren davon geträumt habe, in die Schatten zurückzukehren."

"Was du nicht überleben würdest", befand der Zwerg trocken. "Es ist bald Weihnachten. Da geschehen noch Zeichen und Wunder. Und du persönlich hattest doch schon immer die Glücksgöttin auf deiner Seite. Wer weiß, vielleicht ist es wieder einmal Zeit für sie."

Lewin sah verzweifelt auf. "Ich habe das nie geglaubt. Aber noch nie zuvor habe ich so gehofft, dass es wahr wäre."


Mia und Cataleya genehmigten sich eine kleine Stärkung an einem Getränkeautomaten einer der unzähligen Lounges. Hier ordneten auch einige Leute ihre Einkäufe oder informierten sich an den öffentlich zugänglichen Terminals über das riesige Angebot des Kaufhauses.

Die zwei Mädchen unterhielten sich angeregt über die einmalige Eisbahn des Weihnachtsmarktes und ihre eigenen Schlittschuhfähigkeiten. Dabei nahm keine von ihnen den Kerl wahr, der auf sie zukam. Er hatte ein finsteres Lächeln auf den Lippen, als er zielstrebig die Lounge durchquerte.

Bis ein dumpfer, surrealer Knall erklang, dem der schmerzerfüllte Schrei des Mannes folgte, als er vor den Mädchen wie eine gefällte Eiche zu Boden ging. Verunsichert wichen diese zurück.

Winselnd, rollte sich der kahlköpfige Riese mit der dunkelblauen Motorradjacke hin und her, umklammerte dabei den linken Knöchel, von dem der Fuß derart locker herunterbaumelte, dass Mia und Cataleya beim Anblick schlecht wurde.

Hilfsbereit eilten einige Passanten zum Verletzen, es kam sogar ein Mitarbeiter eines nahen Cafés mit einem Medkit heran. Höflich, aber bestimmt forderte man Mia, Cataleya sowie mehrere Schaulustige auf, weiterzugehen.

Dem Angestellten fiel ein kurzer, massiver Metallstift auf, der am Boden neben dem Hünen lag und der nicht hierher gehörte. Er hob das schwere Teil auf. "Was macht denn ein Türbolzen hier? Da ist er wohl draufgetreten und ausgerutscht. Hat sich den Knöchel vertreten."

"Vertreten?", fragte einer der Helfer irritiert. "Der hat es praktisch geschafft, ihn sich zu pulverisieren."


In der Zwischenzeit hatte Lewin aufgehört, über seine Sorgen zu sprechen und versuchte das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. Es schien, dass seine ehemaligen Kumpel große Stücke auf ihn hielten, da er es ja ‚gepackt‘ hatte. Dann sollte er sich vielleicht nicht solche Blößen geben. Was würden sonst die anderen über ihn denken.

"Was ist eigentlich aus dem Rest des Teams geworden?"

"Silverqueen kehrte nach der Befreiung Sorayas in die UCAS zurück, und die restlichen Reihen haben so viele Male gewechselt, dass ich mich nicht einmal mehr an einen Zehntel aller Namen erinnere. Praktisch sind nur noch zwei von der alten Garde übrig."

Nach der Nennung seines ehemaligen Schwarms, klinkte sich Lewin aus dem Gespräch aus. Zahlreiche großartige Erinnerungen und Momente kamen ihm augenblicklich in den Sinn und erfüllten ihn mit Wehmut. Das war noch ein Leben gewesen.

Irgendwie hatte sich die Erfüllung seines Traumes in einen nicht enden wollenden Alptraum verwandelt. Er fühlte sich ausgebrannt und uralt. Ihn erwartete wohl das schlimmste Weihnachten überhaupt.

Aber wieso wurde er gerade jetzt mit seiner Vergangenheit konfrontiert? Was wollte Martillo hier?

"Mal ganz ehrlich, danke für den Besuch … aber warum bist du hier?"

"Wenn du schon so fragst: Wir haben es zwar auf was abgesehen, das hier in dieser Mall wortwörtlich begraben liegt. Aber ich persönlich bin nur wegen dir hier."

"Wie bitte?" Lewins Neugierde war geweckt.


Die prächtig geschmückten Schaufenster bewundernd waren die Mädchen unterwegs zum nächsten Lift. Sehr eilig hatten sie es nicht, denn regelmäßig blieben sie stehen, interagierten neugierig mit den Elementen der AR und ließen sich auf die weihnachtlichen Spielereien der dazugehörigen AROs ein.

Gerade versuchten Mia und Cataleya in einem virtuellen Schneefeld einen Schneemann zu bauen, als Erstere einen weiteren Riesen in einer dunkelblauen Motorradjacke entdeckte, der zielstrebig auf sie zukam. War es Zufall, dass der Hüne die gleiche Garderobe wie der Typ zuvor trug?

Vielleicht wollte er nur etwas über den Zwischenfall mit seinem Kumpel erfahren … aber sein Anblick machte sie irgendwie nervös.

Also wandte sie sich Cataleya zu, um ihr davon zu erzählen. Dabei beobachtete sie aus dem Augenwinkel, wie der Mann nicht auf die Dachkante einer Weihnachtshütte achtete und mit der Stirn dagegen stieß. Sein Kopf schnellte heftig zurück und ohne einen Ton von sich zu geben, sackte er bewusstlos in sich zusammen.

Mia lief es dabei kalt den Rücken herunter, sie packte den Arm ihrer Freundin und zog sie mit sich.

Diese reagierte überrascht, bis ihr die Passanten auffielen, die zu einem am Boden liegenden Mann rannten, der ein Bruder vom vorherigen mit dem Knöchel hätte sein können.

"Was ist passiert?"

"Er hat sich den Kopf gestoßen."

Als auch Mia einen Blick in die Richtung riskierte, stach ihr eine elfische Schaufensterpuppe mit Weiß bemaltem Gesicht und rotviolett gefärbten Haaren ins Auge, die weiter weg stand. Sie wirkte wie ein bizarrer Ruhepunkt im allgemeinen Chaos.

"Wo willst du eigentlich hin?", fragte Cataleya verunsichert.

Mia fixierte sie nur kurz. "Zur Toilette."

Doch als sie wieder aufsah, war die Schaufensterpuppe verschwunden. Sie beschleunigte ihre Schritte.

"Ist wohl ein schwarzer Tag für diese Typen. Scheint, das Glück ist nicht auf ihrer Seite."

Mia zauderte. "Ich glaube nicht. Die Dachkante der Hütte, an der er sich den Kopf gestoßen haben soll, war doch nur eine AR-Animation."


Aleksej hatte ein Déjà-vu. Eines dieser hässlichen, die er abgrundtief hasste. Denn es würde wohl wieder ein Tag werden, an dem sich das Universum gegen ihn verschworen hatte. Aber heute war er nicht bereit, sich kleinkriegen zu lassen.

Egal, was kam.

Er hatte zu lange auf diesen Tag hingearbeitet, als dass die Unzulänglichkeit von Fußvolk ihm einen Strich durch die Rechnung machen konnte. Nachdem Timur mit zertrümmertem Knöchel in die Krankenstation eingeliefert wurde und von Nika kein Lebenszeichen mehr kam, schickte er Sydir, um nach ihm zu schauen. Ihm hatten sie auch ihre schwere Artillerie anvertraut. Und wenn er noch das Balg herbeischaffte: umso besser. Er selbst blieb seiner Katjuska auf den Fersen. Denn egal, was das Universum gegen ihn unternahm. Spätestens in einer Stunde gehörte sie wieder ihm.


Martillo nahm einen kräftigen Schluck und lehnte sich zurück, bis der Stuhl protestierend knirschte. "Erinnerst du dich noch an den abgewrackten Konzerngnom, einen gewissen Jimin-Irgendetwas, dem du zweimal das Leben gerettet und dann noch ein halbes Vermögen geschenkt hast? Der, der uns damals ununterbrochen mit seinem dämlichen Seealgen-Projekt nervte?"

"War das dieser haarsträubende Run an der Grenze zur SEg, nachdem wir mehrere Monate lang untertauchen mussten?"

"Jup. Wie konntest du bloß all das Geld einfach weggeben?"

Lewin Brodtbeck verschränkte die Arme und wirkte erstmals wirklich sicher. "Das war dreckiges Geld. Ich konnte das nicht behalten."

"Du und deine Moral. Irgendwie war mir schon damals klar, dass du damit in den Schatten nie weit kommen würdest."

Lewin schüttelte den Kopf. "Ich will mich nicht daran erinnern. Bitte nicht. Ich hatte noch Jahre danach Alpträume davon. Schau, mir zittern bereits wieder die Hände, wenn wir nur darüber sprechen."

Er versuchte rasch, auf das ursprüngliche Thema zurückzukommen. "Das war doch der Irre, der sich meinen ganzen Lebenslauf niederschrieb, mich den Wisch unterschreiben ließ und sogar meine Fingerabdrücke aufnahm."

"Genau der!"

Förmlich aus dem Nichts zauberte Martillo ein Ebbi herbei, ein Europäisches Bargeldloses Zahlungsmittel und legte es vor sich auf den Tisch. Das etwa zigarettenschachtelgroße Plastkästchen hatte ein interessantes, asiatisches Logo, wie es Lewin noch nie zuvor gesehen hatte.

"Stellt sich heraus, dass unser Gnom eine echte Koryphäe im Gebiet der Algenforschung war, Erfolg hatte und wohl in seinem Land reich geworden ist."

Das Grinsen des Zwerges schien über die Mundwinkel hinaus zu gehen. "Er ließ dich übrigens als Hauptinvestor eintragen, da dein Beitrag erst seine Karriere ermöglichte. Und falls du dich wundern solltest: Ich werde fürstlich dafür bezahlt, dass ich dir das hier bringe. Ist die Firmendividende eines knappen Jahrzehnts, welche dir zusteht."

Während ihn sein Gegenüber fassungslos anstarrte, nickte Martillo nur. "Das mein Junge, nennt sich Karma."


"Sydir! Meldung!" Unschlüssig wiederholte Aleksej die Aufforderung über den verschlüsselten Funksender und wurde langsam ungeduldig. Das Timur und Nika versagt hatten, überraschte ihn nicht sonderlich. Die beiden waren nicht wirklich die Hellsten gewesen. Aber Sydir? Der Elf war erfahren und kampferprobt. Er konnte es locker mit einem Dutzend Sicherheitsleuten aufnehmen, wenn notwendig.

Aus der Deckung heraus beobachteten er und seine Leute, wie Soraya gerade eine Parfümerie verließ und zielstrebig auf einen Dessous-Laden zusteuerte.

"Sollten wir nicht warten, bis sie rauskommt?", witzelte Oleg, mit der Zoomfunktion der Cyberaugen die Damen der Schaufenster gründlichst untersuchend. "Würde mich ziemlich interessieren, was für Höschen sie gekauft hat."

Aleksejs ging nicht darauf ein. "Sydir?"

Der Funksender erwachte zum Leben.

Der Sibirische Schakal grinste zufrieden.

Und eine unbekannte, weibliche Stimme meldete sich.

Sein Grinsen gefror.

"Lasst die Finger von den Brodtbecks. Dies hier ist die einzige Warnung, die ihr erhaltet. Oder ihr werdet die Konsequenzen tragen müssen."

"Raus aus der Leitung, ich will mit Sydir sprechen."

Die Fremde ging nicht darauf ein. "Ihr seid gewarnt!"

Dann herrschte Stille. Eine unheimliche Stille, in der die drei Männer unschlüssige Blicke wechselten. Markowitz sah man sogar an, dass er mit dem Gedanken spielte, der Aufforderung der Frau nachzukommen. Doch schließlich platzte Aleksej der Kragen.

"Niemand spricht so mit mir. Erst recht nicht eine verdammte Hure! Und wer sich mit mir anlegt, muss auch bereit sein, die Konsequenzen zu tragen."

Er wandte sich entschlossen Oleg und Markowitz zu. Die zwei Messerklauen nickten zustimmend.

"Jetzt ist Schluss mit der Heimlichtuerei. Bringt mir das Mädchen. Egal, was ihr dafür tun müsst. Ich nehme sie auch halbtot. Aber bleibt zusammen. Und haltet eure Funksender offen. Wird ein wenig laut werden. Aber so kann jeder hören, was beim anderen abgeht und notfalls zu Hilfe kommen. Keine Ahnung, wie viele Idioten sich da draußen für den Weihnachtsmann halten und dieser Familie von Volldeppen helfen wollen. Aber diesmal sind wir vorbereitet!"


Ungläubig starrte Lewin Brodtbeck den Ebbi vor sich an. "Das ist einer deiner üblen Scherze, nicht? Ich fass das Ding an und fange mir wieder eine, oder?"

"Nicht dieses Mal."

"Bitte, für wie bescheuert hältst du mich? Das Leben schenkt mir mal was? Einfach so … und das noch an Weihnachten?"

Er schüttelte resigniert den Kopf. "Soll ich echt noch an Wunder glauben? So was gibt es nicht!"

Martillo zog eine buschige Augenbraue hoch. "Erinnerst du dich vielleicht noch an unseren Verrückten mit der Fliege?"

Lewin nickte unsicher.

"Der sagte doch mal: Das Universum ist groß, weitläufig und kompliziert, aber auch irrwitzig. Und manchmal, sehr selten, passieren unmögliche Dinge. Die nennen wir dann Wunder. Also, voilà!"

"Also doch ein Wunder? Sollte mich das irgendwie weihnachtlich stimmen? Echt Bro? Weihnachten ist doch einzig und allein ein Synonym für sinnloses Geldausgeben, erfüllt von unerfüllbaren Träumen und illusorischen Sehnsüchten. Für was wohl stellen sie solche Tempel wie dieses Kaufhaus hin?" Er klang resigniert. "Danke für den kurzen Hoffnungsschimmer. Aber ich kauf dir das nicht ab. Nicht zu einem Zeitpunkt, in dem bloß dem schnöden Mammon geopfert wird."

Die Stimme des Zwerges hatte plötzlich einen belehrenden, zwingenden Ton, der jedes Widerwort im Keim erstickte. "Freund, der wahre, ursprüngliche Geist der Weihnachten hatte etwas martialisches, definitiv wertendes an sich. Da wurde nicht nur der Zusammenhalt der Familie gefeiert, sondern da wurde auch ein jeder an seinen Taten gemessen. Wer Gutes vollbracht hatte, bekam Geschenke. Wer jedoch die Finsternis gesucht hatte, wurde von ihr verschlungen. Und die Boten, die damals diese Wahrheit verkündeten, waren mannigfaltig; egal ob als bärtiger Mann mit Sack und Rute, engelhafte Gestalt oder alte hexenhafte Frau verkleidet. Wie mögen sie denn wohl heutzutage aussehen?"

Lewin hatte ein unangenehmes Kribbeln in der Magengegend. Ihm behagte die Richtung, die das Gespräch genommen hatte, überhaupt nicht. Vor allem war ihm, als würde er sich dabei auf ein Terrain wagen, auf dem ihn Martillo wortwörtlich fertig machen wollte. Irgendwie schien es, als warte der Zwerg nur darauf. Erst jetzt realisierte er aber auch eine seiner Aussagen vor einigen Momenten.

"Du hast doch vorher von der alten Garde gesprochen."

"Ja?" Martillo beugte sich interessiert vor.

"Ist sie noch bei dir? Ich meine … dieses verrückte elfische Biest?"

"Du meinst den ehemaligen Paladin Surehands?"

"Das war sie ja nicht richtig, sie verließ ihren Meister knapp nach der Gründung Tír Tairngires. Dann begleitete sie uns ab und zu …"

"Bro, du hattest schon immer einen gesunden Respekt vor ihr, wenn nicht echte Angst."

Lewin sah sich nervös um. "Ist sie hier? Mein ‚Respekt‘ war absolut begründet. Es war bereits damals furchterregend, was sie mit Wurfgegenständen alles bewerkstelligen konnte. Und ich hatte zuvor noch nie jemanden sich derart bewegen sehen. Ich will wirklich nicht wissen, zu was sie heutzutage in der Lage ist."

Der Zwerg setzte ein versöhnliches Lächeln auf. "Wusstest du eigentlich, dass sie neidisch auf dich ist?" Das Gesicht des Endvierzigers war ein riesiges Fragezeichen.

"Weil du als einziger von uns den Absprung geschafft und sogar eine Familie gegründet hast. Und du hast eine Tochter, auf die du verdammt Stolz sein solltest."

Lewin verschlug es die Sprache.


Mia und Cataleya standen vor dem Spiegel der Frauentoilette und machten sich frisch. Während es für Cataleya einfach nur ein verrückter Tag war, versuchte Mia das bisher erlebte in Gedanken zu ordnen, um es so in Worte fassen zu können, damit ihr Vater sie auch ernst nahm.

Sie wusste ganz genau, wie empfindlich ihre Mutter auf gewisse Dinge reagierte. Aber ihr waren auch die mehrdeutigen Warnungen bewusst, die sie von ihrem Vater erhielt, wenn sie alleine ausging oder in der Matrix unterwegs war. Auch wenn es keiner von beiden jemals vor ihr ausgesprochen hatte, so war sie sich ziemlich sicher, dass die Vergangenheit, die ihr ihre Eltern eisern verschwiegen, in den Schatten lag. Und inzwischen hatte sie von Freunden und Bekannten einiges aufgeschnappt, das darauf hindeutete, dass es in den Schatten viel tödlicher zuging, als jegliche Trid-Show einem glaubhaft zu machen versuchte.

Cataleya fragte sie gerade zum gefühlt tausendsten Mal, was sie genau mit der ‚virtuellen Dachkante‘ gemeint hatte, als eine andere Frau die Toilette verlassen wollte.

Doch als diese die Türe öffnete, versperrten ihr zwei slavisch wirkende Männer den Weg. Noch bevor die Frau reagieren konnte, packte sie einer der Beiden und schleuderte sie in den Gang hinaus, wo sie gegen eine Wand knallte und bewusstlos zu Boden ging.

Dann drangen die Kerle in die Frauentoilette ein.

Schützend stellte sich Mia vor Cataleya. Wobei ihr die Knie zitterten und es ihr einfach nicht gelingen wollte, ihren Kommlink zu aktivieren.

Oleg zückte grinsend eine geladene Pfeilpistole, während Markowitz mit einem hässlichen Geräusch seine Unterarmschnappklingen ausfuhr. Ein Klang, der dazu führte, dass sich Cataleya vor Angst ihre hellen Hosen einnässte. Was wiederum die zwei Messerklauen in höhnisches Gelächter ausbrechen ließ.

Mia fuhr zu ihrer Freundin herum, als diese über die zwei Männer hinwegsah und seltsam entrückt "Bist du ein Engel?" fragte.

Zwar fuhren Oleg und Markowitz blitzartig herum, aber es war bereits zu spät.

Die komplett in weißes Leder gehüllte, asiatische Elfe überragte beide um mehr als einen Kopf. Ihr pflaumenblau gefärbtes Haar trug sie klassisch zurückgebunden, während ihr Gesicht, mit Oshiroi schneeweiß geschminkt, eine Maske war, in der violette Augen wie zornige Edelsteine funkelten. Sie besaß die Präsenz einer wütenden Großkatze, die ein paar räudige Schakale überrascht hatte, als diese sich an ihrer Brut vergreifen wollten.

Ein Tritt traf Markowitz im Gesicht, direkt unter dem Kiefer und beförderte ihn durch eine berstende Tür in die erste WC-Kabine. Oleg legte zwar auf die Frau an, doch schon war sie heran und versenkte einen Schlag derart in seinem Vagus, dass er wie eine leblose Stoffpuppe in sich zusammensackte.

Wie auch Cataleya, die vor Aufregung ohnmächtig umkippte.

Einen Augenblick lang ging jetzt Mias Blick von ihrer Freundin zu den zwei Männern hin und her, bis sie sich der Elfe vor sich zuwandte.

Diese wischte ihren Mantel zurück und kniete sich zu ihr herunter.

Jegliche Furcht des Mädchens war verflogen, denn die Frau strahlte Geborgenheit aus. "Wer bist du?", fragte sie scheu.

"Das Christkind."

Mia zog eine Augenbraue hoch und fühlte sich augenblicklich verarscht und nicht ernst genommen. "Du bist echt der Weihnachtsengel?"

"Ja, der Weihnachtsmann ist anderweitig beschäftigt."

"Das behauptest du doch nur, weil ich ein Kind bin."

"Nein."

"Wo sind denn deine Flügel? Wärst du wirklich ein Engel könntest du fliegen. Kannst du das?"

Noch bevor die Elfe antwortete, erwachten die Funksender der liegenden Männer zum Leben.

"Du verdammte Hure! Hältst dich wohl für die Größte auf unserem Scheißplaneten. Nun, du flügelloser Weihnachtsengel, du wolltest dich mit mir anlegen? Dann erzähl doch Mia mal, was nun ihrer Mutter blüht. Denn was jetzt kommt, ist einzig und allein deine Schuld!"

Die Gesichtszüge der Frau verhärteten sich.

Dennoch nahm sie sich die Zeit, sich nach vorne zu beugen und Mia zärtlich auf die Stirn zu küssen. "Mögest du mehr Sonnenschein als Schatten auf deinem Lebensweg haben und zu einer starken Frau heranwachsen."

Sich ihrer Sache nicht mehr so sicher, hielt ihr nun das Mädchen den vor einiger Zeit gefundenen handtellergroßen Stern aus Hartplastik entgegen. "Ich wollte ihn eigentlich meiner Mutter zu Weihnachten schenken. Er sollte ihr Glück in ihrem Leben bringen."

Die Elfe nickte dankend, nahm den Stern und erhob sich. Dann hatte sie die Toilette verlassen, noch bevor es Mia bewusst wahrnahm.

Noch nie zuvor hatte sie jemanden sich derart bewegen sehen. Das Mädchen warf ihrer Freundin noch einen prüfenden Blick zu und rannte der Elfe nach.

Draußen konnte sie noch sehen, wie die weiße Gestalt direkt auf das Atrium zuhielt, sich über den Handlauf schwang und in die Tiefe verschwand.

Mia spurtete so schnell wie möglich hinterher.

Als sie das Atrium erreichte und suchend in die Tiefe sah, konnte sie erkennen, wie die Elfe ein Stockwerk darunter unterwegs war. Sich am Handlauf haltend, ‚rannte‘ sie über der Händlergasse des Marktes, außen an der Schutzmauer der Passage entlang.

Die Frau bewegte sich mit einer derartigen Leichtigkeit fort, dass die meisten Passanten annahmen, dass sie eine AR-Projektion war.

Dann stockte Mia der Atem.

Denn die weiße Gestalt sprang plötzlich ins Leere. Ihr Mantel wallte weit auf. Und wie die ausgestreckten Flügel eines zornigen Engels, begleitete er ihren kurzen, aber atemberaubenden Flug, als sie über dem Haus des Weihnachtsmannes im Markt unter ihr die gewünschte Etage erreichte und dort verschwand.

Mia rannte weiter hinunter.


Schreie erfüllten den angesehenen Dessous-Laden des Sternkaufhauses. Die Mehrzahl der Kunden floh noch, während sich einige auf den Boden geworfen hatten oder hinter Warenträgern versteckten, als die Elfe hineinschlitterte. Wie angewurzelt blieb sie im Hauptgang vor dem Eingang stehen, als der hasserfüllte Blick des Sibirischen Schakals sie traf.

Knapp fünfzehn Meter vor ihr stand dieser breitbeinig in der Mitte des Ladengeschäfts, bewaffnet mit einem imposanten Keramikmesser. Blut klebte daran. Um ihn herum krümmten sich zwei Angestellte.

Aleksej war zu allem entschlossen und sich vollkommen bewusst, dass das Ende der Vorstellung nahte. Aber noch hatte er die Hauptrolle inne. "Keiner rührt sich! Oder sie ist tot!", brüllte er jeden an, der es nicht hören wollte.

Selbstsicher hielt er mit der anderen Hand eine verängstigte Soraya fest, die ihn auf dem Boden kniend mit ihren Blicken fixierte, als wäre sie ein Reh, das in die Scheinwerfer eines herannahenden LKWs starrte.

Gut hörbar stürmten inzwischen genug Security-Leute heran, so dass dem Schakal nur noch Minuten verblieben, bis er überwältigt und die Gefahr abgewendet war. Doch Soraya hatte nur noch Sekunden.

Aleksejs ganze Haltung strahlte diesbezüglich eine klare, schreckliche Botschaft aus. "Du gehörst nur mir Katjuska, einzig und allein mir!", fauchte er, als er sich wutentbrannt auf sie fokussierte und der Frau in Weiß den Rücken zudrehte, nachdem er sich vergewissert hatte, dass diese unbewaffnet war.

Die Elfe jedoch zerbrach mit einer Druck ihrer Finger den Stern, den das Kind ihr geschenkt hatte in zwei Teile. Nun hatte sie zwei rasiermesserscharfe Klingen.


Soraya war keines klaren Gedankens mehr fähig. Verzweifelt klammerte sie sich daran, dass ihr bisheriges Leben mit Lewin nicht bloß ein Traum, eine Illusion, gewesen sein durfte. Und noch nie war ihr ihre Tochter so wichtig vorgekommen wie jetzt. Mia war mehr als nur ein Teil von ihr ... sie war die Zukunft und die Hoffnung, die sie nie hatte haben dürfen, die man ihr so lange verwehrt hatte. Ohne ihre Tochter war sie nichts, hatte sie dem Abgrund, den die Kreatur vor ihr darstellte, absolut nichts entgegenzusetzen.

Doch Aleksejs Präsenz genügte, um alles Gute verblassen zu lassen. Längst Verdrängtes kam wieder hoch und erfüllte sie mit Angst und Scham, raubte ihr förmlich den Verstand. Er hatte sie so viele Male gebrochen, ihr so viel Leid angetan, dass demgegenüber der Gedanke an den kommenden Tod sogar etwas Erlösendes hatte.

Möglicherweise war er heute gnädig und ließ sie nicht leiden.

Die Frau zitterte.

Noch nie hatte sie ihre Familie so sehr vermisst wie jetzt.

Die zwei kurz aufeinanderfolgenden Geräusche, die sie vernahm, waren dumpf und endgültig. Und würden sich auf ewig als der Klang der Freiheit in ihr Bewusstsein brennen.

Aleksejs Blick erstarrte, als sein Cyberarm sie losließ und die Funktionen einstellte. Vor der verwirrten Frau sackte er in die Knie und fiel vornüber zu Boden. Zwar versuchte er dabei noch etwas zu sagen, doch spuckte er nur Blut.

Dann herrschte mehrere Herzschläge lang eine unheimliche Ruhe.

Schwankend erhob sich Soraya schließlich, während sie die Realität um sich herum wie durch einen Filter wahrnahm. Gestalten eilten herbei, kümmerten sich um die verletzten Männer, die ihr zu Hilfe gekommen waren oder beugten sich über ihre tote Vergangenheit. Stimmen brandeten an sie heran, erreichten sie aber nicht. Sie spürte Hände, die nach ihr griffen und sie führten. Dabei war ihr, als schwebe sie.

Bis sie ihre Tochter nach ihr rufen hörte.

Und die Realität hatte sie wieder.

Sie riss sich los, rannte zu Mia und umklammerte diese, als wäre sie der feste Halt, an dem sie ihr Leben endgültig festmachen konnte. Das Mädchen erwiderte überglücklich die Umarmung.

Suchend kam ein Security-Mann an ihnen vorbei. "Stand hier nicht eine Elfe in Weiß?"

"Das was das Christkind!", platzte es aus Mia hervor.

Der Sicherheitsbeauftragte wandte sich ihr zu. "Ach ne!", ,meinte er mit spöttischem Ton. "Nicht der Weihnachtsmann?"

"Nein", antwortete Mia mit absoluter Überzeugung. "Der ist woanders beschäftigt."


Inzwischen war es auffällig geworden, wie viele Personen am Fenster der Kneipe vorbeirannten und zum Atrium eilten. Irgendetwas war da los. Und Lewin bekam ein mulmiges Gefühl. Vor allem, seit er seine Frau und Tochter nicht mehr erreichen konnte. Er machte sich sichtlich Sorgen.

Als würde Martillo seine Gedanken lesen, bezahlte dieser die Zeche und führte seinen Kumpel aus dem Lokal.

Für Lewin war das die Bestätigung, dass der Zwerg ihn trotz all dem Gerede wohl missbraucht hatte, um die Lokalität oder eine andere Zielperson auszukundschaften. Augenblicklich war wohl die Kacke am dampfen und er musste gehen. Die Pflicht rief. Genau wie in alten Zeiten.

Er wollte deswegen seinem ehemaligen Kameraden etwas Spöttisches an den Kopf werfen, als dieser ihn todernst ansah. "Deine Frau braucht dich!"

"Was?"

Das kam jetzt völlig unerwartet und maximierte nur noch seine Befürchtungen. Verunsichert sah er sich um, während der Zwerg nach unten zeigte. "Das kommt von dem Dessous-Shop, vor dem du immer wieder verträumt stehen bleibst."

Lewin errötete leicht.

"Junge, aber vergiss das hier nicht!" Martillo drückte ihm den Ebbi des Gnoms in die Hand. Dann vollführte er mit ihm ihren klassischen Gruß, der vor einem Jahrzehnt zum Ritual des Abschieds gehört hatte. Siedend heiß wurde Lewin dabei bewusst, dass jedes Mal, wenn sie ihn ausführten, es theoretisch ein endgültiges Lebewohl gewesen war: Denn keiner wusste damals, wie lange er noch in den Schatten sein würde. Und er ob nicht schon ins Gras gebissen hatte, wenn die anderen den nächsten Run an Land ziehen sollten.

Mit einer sichtlichen Gänsehaut trat er zurück.

Martillo grinste ihn dafür unentwegt an. "Wir sehen uns wieder, versprochen. Irgendwann!"

"Pass auf dich auf!"

"Und du auf dich, Kolbenfresser. Und nun geh, sie brauchen dich!"

Der Zwerg gab ihm noch einen symbolischen Tritt und scheuchte ihn in Richtung der Treppe. Lewin rannte los, vernahm dabei aber noch ein unerwartetes "Ho! Ho! Ho!" von Martillo.


Als er seine Familie erreichte, saßen diese auf einem Bänkchen außerhalb des Dessous-Laden und unterhielten sich mit einer Schar von Security-Leuten. Nachdem sich Lewin einem gewissen Herr Michael, dem Stellvertreter des hiesigen Sicherheitschefs, zu erkennen gegeben hatte, wünschte dieser, auch mit ihm zu sprechen. Natürlich gab er bereitwillig Auskunft.

Doch nur Mia fiel hierbei auf, wie blass ihr Vater wurde, als man ihm den Angreifer seiner Frau beschrieb. Dennoch blieben ihre Eltern eisern bei der Behauptung, dass sie ihn nicht kannten und noch nie zuvor getroffen hatten.

Seltsamerweise interessierte sich keiner mehr für die Elfe in Weiß.

Dann wurde der Leichnam des Angreifers auf einer Bahre aus dem Geschäft getragen und Soraya flüchtete sich in die Arme ihres Gatten.

Der Sicherheitsmann wandte sich dem begleitenden Arzt zu und wollte von ihm wissen, was denn überhaupt passiert war.

"Ich kann es wirklich nicht sagen. Das Einzige, das mir sicher scheint, ist, dass sich da was Spitzes im Nacken des Mannes befindet, dass die Todesursache sein könnte. Sieht bizarrerweise wie der Teil eines Weihnachtssterns aus. Ein Teil steckt genau zwischen zwei Halswirbeln fest und hat das Rückenmark durchtrennt und das andere hat wohl die Halsschlagader derart durchschlagen, dass das Gewebe zur Speise- und Luftröhre zerfetzt wurde. Er ist möglicherweise in seinem eigenen Blut erstickt."

Der Arzt zuckte mit den Schultern. "Jep, klingt ziemlich hanebüchen und kann auch vollkommen anders sein. Aber ich kann erst nach der Obduktion etwas mit Gewissheit sagen." Der Sicherheitsbeamte zeigte auf das Ehepaar und sah den Arzt an. Dieser schüttelte jedoch den Kopf. "Was auch immer den Mann getötet hat, es kam genau von der entgegengesetzten Seite."

"Ist gut", murmelte Herr Michael, als ihn ein Funkspruch erreichte. "Ihr habt was wo gefunden? Einen bewusstlosen, bewaffneten Elf im Luftschacht? Ich schick jemanden hin."

Kopfschüttelnd fuhr er zu seinen Leuten herum. "Sind jetzt alle verrückt geworden? Ist das vielleicht so eine Art Abrechnung?"

Dann meldete sich Mia zu Wort. "In der Frauentoilette des vierten Stocks, die neben dem Taliskrämer, liegen zwei Vercyberte und meine ohnmächtige Freundin Cataleya. Und draußen noch eine fremde Frau." Der Vize-Sicherheitschef wollte hierauf etwas erwidern, aber er starrte sie nur einen Moment ungläubig an und schickte dann zwei seiner Männer dorthin. Dann wandte er sich ihren Eltern zu. "Ihr bleibt mir hier! Da ist noch einiges an Papierkram, dass wir erledigen müssen." Das Ehepaar nickte.

Lewin Brodtbeck sah sich zwar suchend um, doch so sehr er sich auch bemühte, er konnte weder einen Zwerg noch eine weiß geschminkte Elfe ausmachen. Und während seine Tochter den Augenblick sichtlich genoss, klammerte Soraya sich an ihn, als gäbe es kein Morgen. Ihm kam die ganze Situation immer unwirklicher vor.

Als wäre alles nur ein Traum gewesen.

Dann verirrte sich sein Blick auf den Ebbi in seiner Hand. Lewin versuchte ihn zwar zu aktivieren, doch nichts geschah. Was ihn auch nicht verwunderte, denn genau das hatte er von Martillo erwartet.

Bis er das Teil drehte, die Seite mit dem asiatischen Logo aufklappte und darunter ein Feld zum Vorschein kam, dass per Fingerabdruck aktiviert werden konnte.

Mit einem heftigen Kribbeln im Nacken hielt er den Daumen darauf.

Eine Zahl erwachte im Display.

Lewin hielt die Luft an, als sein Herz mehrere Schläge lang aussetzte.

Als Soraya auffiel, wie sehr ihr Gatte am ganzen Körper zitterte, wandte sie sich sorgenvoll an ihn. "Liebling, ist was?"

Ihr Mann hatte Tränen in den Augen, als er jetzt mit belegter Stimme sprach.

"Dieses Jahr verbringen wir Weihnachten nicht allein, sondern mit der Familie. Bei meinen Eltern, bei ihnen zu Hause … bei mir zu Hause."

"Wirklich?", freute sich Mia. Ihre Mutter klang dafür besorgt. "Können wir uns das überhaupt leisten?"

Er nickte, als er sich die Tränen aus den Augen wischte. "Für den Rest unserer Tage!"