Shadowrun

24.12.2021: Tür 24

Autor: David Grade

Shadowrun Youngbloods – Der Adventskranz

Auf einem Schrottplatz am Rande des Rhein-Ruhr-Megaplexes leben die Youngbloods. Eingezwängt zwischen den düsteren Straßenschluchten des gigantischen Stadtmolochs und den gefährlichen, erwachten Wäldern, die ihn umringen, haben sie ein Zuhause geschaffen. Eine Bande von Kindern, die in der sechsten Welt um ihr Überleben kämpft.


"Komm schon Rabe, ich muss da hoch. Hilf mir." Rahel war die einzige die ihr Totem im Astralraum sehen konnte. Die beiden anderen hatten keine magischen Fähigkeiten. Sie waren mundan.

Zehn-Siebzehn stand auf dem höchsten Punkt eines Stapels rostender Busse, sein Gewehr im Anschlag, und spähte auf den Rhein-Ruhr-Megaplex. Aus seiner Rückenscheide ragte der Griff seines Wakizashis. Der stahlgraue Himmel wurde dunkler. In der Dämmerung mochten sich Ganger oder Guhle in das Gebiet der Youngbloods aufmachen und die Teufelsratten erwachten.

Spider, die es hasste so genannt zu werden, eigentlich hieß sie Yolo, trippelte mit den acht Beinen ihres Laufstuhls auf dem Boden herum. Rahel spürte, dass Spider die Augen verdrehte, obwohl sie ihr den Rücken zudrehte.

"Da oben gibt’s bestimmt nix zu fressen. Außerdem sind die Dinger gefährlich." Rabe saß auf einer ausrangierten Waschmaschine und äugte zu den Rotorblättern des Windrades hinauf. Es stand still.

"Bist du bald soweit? Es wird Dunkel." Yolo war zum Mast gestakst und hielt die Buchse des Kabels nach oben, das sich aus der Bedieneinheit des Windrades schlängelte.

"Rabe wir müssen das Windrad reparieren. Sonst haben wir zu wenig Strom und unsere Heizstäbe funktionieren nicht, und wir haben weniger Licht und …" Rahel suchte nach etwas was Rabe überzeugen konnte. "Die Heizplatten gehen auch nicht. Wir können kein Soykäse schmelzen, um das Brot einzutunken."

Rabe hob seinen Kopf und schenkte ihr seine volle Aufmerksamkeit. "Kein geschmolzener Käse?"

"Nein."

"Na gut."

Der schwarz gefiederte Vogel breitete die Schwingen aus und sauste auf Rahels Brust zu. Es war als wäre sie Wasser und Rabe würde in sie eintauchen. Rahel fühlte den Vogel in ihr, spürte wie er wuchs, hörte das Rascheln von Gefieder, blickte auf ihre Fingernägel. Sie wurden gelblicher und länger und spitzer. Auf ihrem Handrücken, zwischen den Knöcheln, spross schwarzer Flaum. Das war nicht nur im Astralraum zu sehen, sondern auch in der mundanen Welt. Sie warf einen Blick zu ihren Gefährten. Spider, die mittlerweile mit der Buchse an den Mast tippte, drehte ihr immer noch den Rücke zu. Zehn-Siebzehn, auf dem schräg aufragenden Bus, beobachtete immer noch den RRP. Zwischen den Arkologien der Konzerne bewegten sich riesige Hologramme; ein Weihnachtsmann, eine Vampirfledermaus und ein Warzenschwein. Die beiden hießen Tatzel und Mizaza und waren Stars einer Trideoserie, die Rahel als kleines Kind gesehen hatte. Sie schüttelte ihr Gefieder, um die Erinnerung zu vertreiben. Sie wollte nicht an früher denken. Nicht an Mama und Papa. Sie wollte nicht traurig werden.

Rabe in ihr schrie und Rahel öffnete ihren Mund. Der Rabenschrei drang in die mundane Welt. Zehn-Siebzehn fuhr herum, rutschte ab und fing sich in letzter Sekunde. Spider zuckte zusammen, verhedderte die acht Beine ihres Laufstuhls und knickte ein.

Rabe lachte in ihr. Rahel schlug ihren Mund zu – es klang wie das zuschnappen eines Schnabels – und mühte sich das Lachen in ihr zu halten. Rabe war ein Aas, der Spaß an dem Unglück anderer haben konnte. Jetzt starrten ihre beiden Gefährten sie an. Jetzt war es egal, Rabe war in ihr. Rahel bat sie sich wegzudrehen, bevor sie mit ihm verhandelte, weil sie dann weniger nervös war und es besser funktionierte.

Die elfjährige breitete ihre Schwingen, nein Arme, aus hüpfte dreimal vorwärts und erhob sich in die Luft, weg vom schrottübersähten Boden, hin zum Rotor des Windrades wo sich irgendwo ein Kabel gelöst hatte. Unter ihr sortierte Spider ihre acht Beine, zog den Stecker, der sie mit dem Laufstuhl verband, aus der Buchse in ihrem Hinterkopf und schob die Buchse des Verbindungskabels zum Windrad hinein. Spider würde jetzt gedanklich mit dem Windrad verschmelzen. So wie sie vorher mit ihrem Laufstuhl verschmolzen war und vielleicht ein bisschen so, wie Rahel und Rabe verschmolzen waren.

Kraa, Kraa, rief Rahel, umkreiste die Rotorblätter und ließ sich auf dem Maschinenhaus, aus dem sie ragten, nieder. Sie ließ den Wind durch ihr Gefieder wehen und legte den Kopf schief, um Himmel und Boden beobachten zu können. Im Nordwesten lag der Dschungel aus Asphalt und Licht, im Südosten grenzte der Baumwald, mit all seinen Schrecken an den Schrottplatz. Als eine Serviceluke vor Rahels Schnabel, ihrem Gesicht natürlich, aufsprang und die Dioden dahinter wild flackerten, erinnerte sie sich an ihren Auftrag. Sie schob eine Hand in die Innentasche ihrer Jacke und zog zwei kleine Schraubenzieher hervor.

"Siehst du ihn?" Spiders Stimme klang aus einem Lautsprecher hinter der Serviceklappe. Daneben, umgeben von Leuchtdioden lagen Drähte und Kabel übereinander. Sie waren eingehüllt in bunte Plastikmäntel, nur ihre Köpfe waren bloßes Metall und festgelötet oder unter Schrauben eingeklemmt. Eine davon war lose.

"Ich glaub ja." Rahel kämpfte den Impuls nieder die ganzen farbigen Dinger mit dem Schnabel heraus zu zupfen, um zu sehen ob ein dicke köstliche Made darunter war.

Das ist gefährlich Rabe. Da ist Elektrizität drin.

"Was heißt du glaubst? Ist das NX-97 Kabel locker oder nicht?"

"Ja, ja es ist locker."

"Dann drück es unter die Schraube. Untere Reihe, die dritte von Links und zieh sie fest. Und denk dran nur die Schraubenzieher zu benutzen, die sind isoliert, sonst bekommst du einen Stromschlag und stürzt ab.

Hast du gehört Rabe? Rahel machte sich an die Arbeit. Nicht schwierig, jetzt wo sie wusste was zu tun war. "Fertig."

"Moment." Spider, die ja jetzt mit dem Windrad verschmolzen war, ließ die Wartungsklappe zuschnappen. "Scheint zu funktionieren, komm runter, damit wir es ausprobieren können."

Rahel steckte die Schraubenzieher weg. Drehte sich in eine günstige Position und sah nach unten. Dort lag der Schrottplatz. Sogar Zehn-Siebzehn, auf dem schräg aufragendem Bus, stand niedriger als sie. Von ihr oben könnte sie etwas auf seinen, oder auf Spiders Kopf fallen lassen. Sie tastete nach den Schraubenziehern.

"Hör auf Rabe." Sie zog die Hand zurück. Etwas bewegte sich aus einem Auto, quetschte sich durch Loch, in dem keine Windschutzscheibe mehr saß, auf die eingedrückte Motorhaube. Eine riesige, nackte Ratte mit dicken Beulen auf der Haut und verzwirbelten Hörnern auf den Kopf. Keine fünf Meter von Spider entfernt, die immer noch mit dem Windrad verbunden war.

"Vorsicht", brüllte Rahel. Alles was aus ihrem Mund kam war ein lauter KRAAAAH. Sie sprang ab und flog. Im gleichen Moment sprang die Teufelsratte, verbiss sich in eines der acht Beine von Spiders Laufstuhl und riss daran. Zehn-Siebzehn drehte sich zum Geschehen herab und legte sein Gewehr an.

KRAAAAH! - Schieß nicht in den Nahkampf rein, du Idiot, sollte das heißen. Andererseits was sollten sie tun? Rahel war eine Rabenschamanin und selbst wenn sie Kampfflugzeugschamanin gewesen wäre, wäre es nicht sonderlich klug mit einer Teufelsratte in den Nahkampf zu gehen. Sie sah sich um. In einem halb aufgerissenen Container sah sie Plastiksäcke, die mit irgendetwas gefüllt waren. Vielleicht könnte sie einen davon hochheben und auf die Ratte fallen lassen? Wobei das ähnlich gefährlich war, wie in den Nahkampf zu schießen, was wenn sie Spider traf? Die riss den Stecker des Windrades aus ihrer Kopbuchse und rammte den des Laufstuhls hinein. Ihre acht Beine erwachten zum Leben. Das eine war fest im Maul der Teufelsratte, mit zwei der Sieben anderen schlug und stocherte sie nach dem Tier.

Zehn-Siebzehn hatte nicht geschossen, stattdessen warf er das Gewehr über die Schulter und kletterte den Bushaufen hinab.

Aus dem gleichen Auto wie die erste sprangen zwei weitere Ratten. Rahel ging in den Sturzflug über, auf den aufgerissenen Container hinab. Wenn sie nichts auf die Ratte im Nahkampf fallen lassen konnte, dann auf die beiden Neuankömmlinge. Sie packte einen Sack am Zipfel und stieg wieder hoch, viel langsamer als vorher. Komm schon Rabe hilf mir.

"Das ist anstrengend." Rabe machte Anstalten ihrer Körper zu verlassen. "Lass uns einfach zugucken und die Überreste fressen."

Du bleibst hier, dass sind meine Freunde.

Rabe blieb. Rahel krallte ihre Finger um den Zipfel. Der Sack war furchtbar schwer.

Zehn-Siebzehn kam unten an, zog im Rennen sein Wakizashi aus der Rückenscheide und sprang über einen Stapel verbogener Eisenrohre. Vielleicht waren sie früher einmal für den Gerüstbau verwendet worden. Die erste Teufelsratte hatte immer noch Spiders Bein im Mund, eine zweite sprang herbei und erwischte ein weiteres Bein. Gemeinsam zogen sie Spider von dem Windrad weg, hin zu dem Stapel zerknautschter Autos aus dem sie gekommen waren. Dort quollen weitere aus ihren Verstecken. Mit geöffneten Mäulern, scharfe Zähnen darin, peitschten sie ihre nackten Schwänze auf das Blech und den Plaststahl der Karosserien.

Rahel ließ den Sack über ihnen. Der stürzte herab und krachte in ein Autodach, gleich neben der dickste Teufelsratte. Bevor die zur Seite sprang, platzte das blassblaue Plastik auf und Bauschutt verteilte sich im Umkreis. Weißer Staub hüllte alles ein. Die Ratten kreischten.

Eine Teufelsratte ließ von Spider ab, richtete sich auf die Hinterbeine auf, sah zu der Staubwolke in der ihre drei Kumpaninnen verschwunden waren und floh. Die andere blieb im Bein verbissen. Zehn-Siebzehn war da. Schlug mit dem Wakizashi zu und der Teufelratte die Schneide über die Schnauze. Blut quoll, das Vieh schrie und ließ dabei Spiders Bein fahren.

Rahel taumelte. Sie hatte sich zu sehr angestrengt, ihr Gesicht war feucht. Wahrscheinlich blutete ihre Nase. Sie schwebte zu Boden, bevor Rabe ihren Körper verließ und kam auf allen Vieren, gleich hinter Zehn-Siebzehn, auf. Der führte einen zweiten Hieb gegen die Teufelsratte, deren Schnitt an der Schnauze immer noch blutete. Das Vieh wich zurück, fauchte. Zehn-Siebzehn setzte nach. Die Ratte sprang rückwärts, drehte sich um und rannte. Vielleicht hatte sie bemerkt, dass sie alleine gegen drei stand. Vielleicht tat ihr die Schnauze zu weh.

"Geht es euch gut?" Zehn-Siebzehn wischte sein Wakizashi an einer Plane ab.

"Ein Bein ist kaputt, aber ich kann noch laufen. Rahel?"

"Nasenbluten." Rahel betrachtete ihre blutigen Finger mit denen sie sich ins Gesicht gefahren war. "Und Kopfschmerzen und Hunger auf geschmolzenen Soykäse."

Sie schalteten das Windrad ein. Das ging auch aus der Ferne. Spider hatte ein Kommlink dabei mit dem sie in die Matrix kam. Es funktionierte und der Wind griff in die Rotorblätter und begann sie zu drehen.

"Wir sollten zurück. Das waren fünf Ratten und sicher sind da noch mehr." Zehn-Siebzehn übernahm die Vorhut.

"Warum hast du die nicht gesehen?" Spider hinkte kaum, die sieben verbliebene Beine ersetzten das ausgefallen sehr gut. "Es war dein Job Wache zu halten."

"Tut mir leid." Zehn-Siebzehn blickte sich nicht zu ihnen um. "Ich habe mir diese riesigen Hologramme angesehen. Wer ist dieser Mann in dem roten Mantel und dem Sack?"

"Der Weihnachtsmann", sagte Rahel.

"Der Nikolaus", sagte Spider.

Die beiden sahen sich an. Die meisten Youngbloods wussten, dass Zehn-Siebzehn aus einer Forschungseinrichtung stammte, wo er vieles nicht mitbekommen hatte, das für andere selbstverständlich war.

"Na wer denn nun?" Zehn-Siebzehn ging weiter vor. Er hatte sein Wakizashi in beiden Händen und beobachtete die Schrotthaufen um sie herum.

"Spider wird recht haben. Bei Saeder-Krupp haben wir zwar Weihnachten gefeiert aber ich glaube meine Eltern waren Muslime, oder so. Jedenfalls hat sich meine Mama wegen dem großen Jihad in die ADL versetzen lassen und da hat sie …" Raheel schwieg. Papa kennen gelernt, hatte sie sagen wollen. Die Youngbloods sprachen nur selten über ihre Eltern oder Herkunft. Wenn, dann am Lagerfeuer, wenn es spät war und jeder der wollte in die Hängematten oder Schlafkojen verschwinden konnte. Rahel räusperte sich.

"Was hat das mit Muslimen zu tun?" Zehn-Siebzehn sprang auf die Radabdeckung eines Traktors, der keine Reifen mehr hatte und sah sich um.

"Es ist ein christliches Fest." Spider hielt auch an. "Die Christen glauben das Weihnachten Jesus Christus geboren ist. Ein Mann den später sein Vater umgebracht hat, damit sie von allen Sünden befreit sind. Und der ihnen gesagt hat wie sie leben sollen, damit sie keine Sünden machen. Er kommt irgendwann zurück und dann gibt es einen großen Krieg."

"So wie den Djihad", sagte Rahel. Sie sah fragend zu Zehn-Siebzehn hinauf. Der nickte, sprang herab und ging weiter.

"Ja vielleicht wie der Djihad." Auch Spider stakste weiter. " Auf jeden Fall freuen sich die Christen das er geboren ist und deswegen feiern sie das jedes Jahr."

"Und was hat das mit Weihnachstmann Nikolaus zu tun?" Zehn-Siebzehn hatte jetzt Schultern und Waffe gesenkt, anscheinend hielt er die Gegend für sicherer, jetzt wo sie sich dem Hauptquartier näherten.

"Am besten fragst du Sheli, die ist bei einer Sekte aufgewachsen." Spider hatte einen Schraubenzieher herausgezogen und stocherte beim Gehen in dem defekten Bein ihres Laufstuhls herum, dessen Fußende sie in der Hand hielt. "Oder Kim, der sucht dir in der Matrix eine Wissensoft, die das alles erklärt."

Rahel verdrehte die Augen, Spider brachte mit jedem Satz etwas Neues ein was Zehn-Siebzehn vielleicht noch nicht kannte. Und außerdem war Sekte bestimmt falsch, die Universelle Bruderschaft war eine Sekte gewesen. Davon hatte Rahel in der Schule gehört, als sie noch zur Schule ging. Bei so etwas war Sheli bestimmt nicht aufgewachsen.

Zehn-Siebzehn sprang aber gar nicht auf das Wort Sekte an. Er hatte eine andere Frage. "Rahel, wenn deine Eltern gar keine Christen waren, warum habt ihr dann Weihnachten gefeiert?"

"Weil es sich gut angefühlt hat." Rahel fuhr sich durch die Haare. "Weil es Geschenke gab, weil es überall etwas zu kaufen gab was mit Weihnachten zu tun hatte. Weil wir das alles gemeinsam mit den anderen gemacht haben, denke ich."


In der Nacht träumte Rahel. Die Glocke klingelte hell und silbern und sie erwachte in ihrem Kinderzimmer. Das Poster von Lofwyr leuchtete beruhigend auf sie herab Sicher unter starken Schwingen stand darauf. Sie schlug die Bettdecke zurück. Der Boden war warm unter ihren nackten Füßen. Der Flur war dunkel. Links wo das Wohnzimmer lag, klingelte es erneut hell und silbrig. Es roch nach Schwefel und Lebkuchen, Tannennadeln und Kakao. Rechts saß Rabe im Flur und schüttelte mit dem Kopf. Aber Rabe war noch nicht da. Er kam erst später. Rahel ging nach links, schob die Tür zum Wohnzimmer auf. Da stand er. Ein Baum wie aus einem Märchentrideo, bunt wie die Verpackungen von Bonbons und in den Kugeln und dem Lametta schimmerten die Kerzen wieder und da war Mama …

… mit rasendem Herzen schreckte Rahel hoch. Fast wäre sie aus der Hängematte gekippt. Sie krallte sich fest. Kalte Luft strich über ihre Handrücken. Im HQ war es kalt. Die meisten Kinder hatten sich auf den Matratzen zusammen gedrängt, nah an den Heizstäben. Erst vorgestern, hatte sich Jonatur verbrannt, weil er zu dicht an einem geschlafen hatte, trotz, oder vielleicht wegen seiner dicken Trollhaut.

Rabe mochte es nicht auf dem Boden zu schlafen, und deswegen hatte sich Rahel mit drei Decken und zwei Kissen in eine der Hängematten gelegt. Auch wenn es kalt war.

Als die Hängematte weniger schwankte, tastete Rahel nach ihrem Herz. Es schlug immer noch schnell. Sie wischte sich über ihr Gesicht, schaute in den Astralraum und versuchte die dunklen Fäden in ihrer Aura, die der Traum hinterlassen hatte, fortzuziehen. Es gelang ihr nicht. Sie zwirbelten sich aus ihrem Kopf zusammen und sanken als Trauer in ihre Brust.

Mama, Papa. Sie hätte gestern nicht so viel von Weihnachten erzählen dürfen. Rahel stand auf. Zog sich ihre Stiefel an, schnürte sie mit kalten Fingern, zog sich ihre Jacke an, warf sich eine Decke über und stapfte zur Leiter, die in den Ausguck hinauf ging. Vielleicht würde der Wind die dunklen Fäden aus ihrer Aura wehen.

Oben stand Zehn-Siebzehn und spähte zu den Lichtern des Rhein-Ruhr-Megaplex. Ein gigantischer Adventskranz hing über der Stadt. Ein Hologramm, so groß wie es Rahel noch nie gesehen hatte. Eine einzelne Kerze brannte darauf. Riesigen Banner hingen von dem Kranz herab. Sie blähten sich im Wind (auch nur Hologramme aber sie sahen sehr, sehr echt aus). Saeder-Krupp wünscht einen frohen ersten Advent, stand da.

"Kannst du auch nicht schlafen." Rahel stellte sich eng an Siebzehn-Zehn und lupfte ihre Decke. Zehn-Siebzehn nahm das Angebot an und legte sie auch um seine Schulter. Seine Kleidung war kalt und seine Hände noch mehr.

"Ich hab wache."

"Ja, klar."

"Was soll diese Kerze auf dem Kranz und was ist ein Advent? Hat es was mit Weihnachten zu tun?"

Rahel überlegte. Dieses Gerede von Weihnachten hatte sie von Mama träumen lassen, also wollte sie es nicht. Andererseits fühlte es sich gut an mit Zehn-Siebzehn zu sprechen.

"Es ist ein Adventskranz. An den vier Sonntagen vor Weihnachten wird jeweils eine Kerze mehr auf ihm angezündet."

"Warum?"

"Keine Ahnung."

"Ist es vielleicht ein Ritual, so wie ein Morgenappell, oder wenn wir früher die Hymne von Aztechnology gesungen haben?"

"Vielleicht. Ich glaube es soll zeigen wie lange Weihnachten noch weg ist. Und die Kerzen sollen zeigen wie die Hoffnung größer wird."

"Bist du traurig?"

"Ja."

Unter der Decke über ihren Schultern nahm Zehn-Siebzehn sie in den Arm. "Ich will auch so einen Adventskranz. Rituale machen stark."

"Haben sie dir das in deiner Forschungseinrichtung beigebracht?"

"Ja." Zehn-Siebzehn schwieg eine Weile. "Wir hatten die von den Kurakistoj und wir haben uns auch eigene gemacht."

"Aha." Rahel nahm ihn zurück in den Arm. "Bist du auch traurig?"

"Ja."

Gemeinsam schauten sie auf den Adventskranz, die brennenden Kerzen und die Banner, die sich im Wind blähten.

"Ich dachte die Kurakistoj waren gemein zu euch."

"Meistens."

"Und trotzdem willst du ein Ritual?"

"Nicht ihre." Zehn-Siebzehn zog die Decke um sie enger. "Ich will das wir ein eigenes machen."


Am nächsten Tag bauten sie einen Adventskranz. Die Grundlage war ein alter LKW-Reifen. Im Südosten des Schrottplatzes wuchsen Tannen, von denen sie Tannengrün schnitten. Mit Draht und Kabeln aus alten Autos banden sie das um den Reifen. Es war Jonatur der, zusammen mit zwei weiteren Youngbloods große, weiße Kerzen von einem nahen Friedhof erbeutete.

Am Abend waren fast alle Youngbloods damit beschäftigt, silbriges und goldenes Blech zu suchen. Sie schnitten und stanzten Sterne daraus, Monde und formten kleine Quader, die mit Drahtschleifen aussahen wie Geschenke. Damit schmückten sie den Kranz.

Sie schoben einen Tisch in die Mitte des Hauptquartiers und hievten ihr Gebilde darauf. Es sah nicht so aus, wie der Kranz von Saeder-Krupp der als Hologramm über dem Plex hing. Geäst ragte in alle Richtungen aus ihm heraus. Die Nadeln wirkten zerrupfter und der Schmuck wenig gleichmäßig. Die Kerzen standen nach innen gebeugt, aber anders hatte sie niemand befestigen können.

"Ich mag Weihnachten nicht." Jonatur versuchte die Kerzen gerade zu biegen, dabei löste sich Draht und ein Tannengrün ragte noch weiter vom Kranz ab als vorher.

"Warum nicht?" Sheli trat hinzu und versuchte den Draht wieder fest zu machen.

"Meine Eltern waren dann noch betrunkener als sonst. Einmal bin ich mit meiner Schwester in den Keller gegangen, weil wir es oben nicht mehr ausgehalten haben. Wir haben Decken mitgenommen und was zu essen, und den Adventskranz, den hat Weihnachten ja keiner mehr vermisst, und dann haben wir im Keller unser eigenes Weihnachten gefeiert."

"Und mochtest du das?" Zehn-Siebzehn zog sich einen Stuhl an den Tisch mit dem Kranz, kletterte hinauf und zündete eine Kerze an.

"Ja, das mochte ich."

"Sag ich ja es ist besser seine eigenen Rituale zu machen."

Die anderen Youngbloods versammelten sich um den Tisch. Rahel stellte sich zwischen. In ihrer Brust drückte und zog etwas. Es war nicht Rabe, der im Astralraum in der Nähe des Herdes herumhüpfte und auf das Abendessen wartete. Es waren Erinnerungen an Früher. An Zeiten in denen Weihnachtslieder die Gängen der Arkologie füllten und es Lebkuchen als Nachtisch in der Schulkanite gab. Rahel konnte nicht entscheiden ob die Erinnerungen sich gut oder schlecht anfühlten. Irgendwie beides. Es half nicht, dass die andere Youngbloods so ruhig waren. Rahel hielt sich mit beiden Händen den Mund, um nicht loszukrähen und alle zu erschrecken.

Zehn-Siebzehn kletterte vom Stuhl. "Und jetzt?"

"Mich macht das traurig." Spider trippelte in den Kreis der Youngbloods. "Ich hab meinem Opa schon immer gesagt, dass ich es nicht mag, wenn nur eine Kerze brennt. Die ist so alleine."

"Und was hat er gemacht?", fragte Sheli, die damit fertig war, dass Tannengrün zu richten.

"Gesagt, dass in einer Woche, ja eine zweites Licht dazu kommt."

"Dein Opa ist tot, oder?" Jonatur nahm streckte seine Hand nach Zehn-Siebzehn aus und bewegte Zeige und Mittelfinger. Zehn-Siebzehn legte ihm das Feuerzeug in die Hand.

"Ja."

"Dann können wir ja einfach alle Kerzen anmachen. Niemand muss alleine sein." Jonatur hatte Mühe das Feuerzeug anzureiben. Zu klein war es, für seine riesige, schwielige Trollhand. Sheli nahm es ihn ab, rieb es an und reichte es ihm zurück.

Jonatur brauchte keinen Stuhl, um die restlichen drei Kerzen zu entzünden.

"Wir sind die Youngbloods" rief Sheli, als alle Lichter brannten, "bei uns brennen alle vier Kerzen, immer!"

"Youngbloods!", riefen alle, bis auf Sheli. Aus ihrem Mund drang ein lautes KRAAAAA!

Beim Abendessen entschied sie, dass das Gefühl in ihrer Brust ein Gutes war.